Akzeptieren des Unveränderlichen:
radikale Akzeptanz

Akzeptieren des Unveränderlichen:
radikale Akzeptanz

Auf den ersten Blick ein fast gewalttätiger Ausdruck. Schauen wir genauer hin: Das Wort radikal geht auf das lateinische Wort Radix (die Wurzel) zurück. Wurzeln sind wichtig, um uns fest zu verorten. Wir sind mit etwas oder an einem Ort verwurzelt. Pflanzen brauchen Wurzeln, um zu leben.
Und – Sie ahnen es bereits – auch das Wort Akzeptanz geht auf das Lateinische accipere, was annehmen, übernehmen, gutheißen, billigen meint, zurück.

Im gesellschaftlichen und politischen Kontext wird das Wort „radikal“ dann verwendet, wenn man etwas an der Wurzel packen will, um es umfassend und nachhaltig zu gestalten.

Radikale Akzeptanz meint also, dass wir die Realität umfassend und vollständig annehmen sollen, um uns dann in die Lage versetzen zu können, Spielräume zu identifizieren und zu nutzen. Es bedeutet nicht, sich passiv in sein Schicksal zu ergeben und im status quo zu „ertrinken“. Es gilt zu akzeptieren, dass das, was ich mir wünsche, aktuell keine Realität ist.

Es ist selbstverständlich in Ordnung, wenn man zunächst von einer schwierigen/schrecklichen/angstmachenden Situation überfordert ist, sich überrollt fühlt, die Realität nicht wahrhaben will und tief ins „Jammertal“ hinein geht. Es lässt sich schon erahnen, dass das Versinken in Frustration, Schmerz oder Traurigkeit über den (eigenen) Zustand, den man Realität nennt, letztlich nur Kraft und Energie kosten, jedoch gar nichts an den Gegebenheiten ändern wird. Bleibt ein Mensch dauerhaft und ausschließlich in der Klage und im Schmerz, dann schadet er sich vor allem selbst.

Es geht darum, nach der Zeit der Verleugnung („Das kann nicht wahr sein!“) und der Klage („Nur mir passiert wieder so etwas ungerechtes!“) wieder zu sich zu finden und den Blick von hinten nach vorne zu richten.

Akzeptanz der Situation ist dabei nicht im Sinne von Resignation gemeint („Es ist wie es ist.“), sondern als Voraussetzung für Veränderung. Nur wenn man die unveränderliche Realität als solche akzeptiert, schafft man diese Basis, die für Veränderungsschritte notwendig ist.

Dabei reichen die zu akzeptierenden Realitäten von einer Verspätung bei einem Termin bis hin zu Krankheit und Tod. Die Spannweite ist sehr groß und damit auch die Herausforderung verschieden schwer zu meistern. Die „Mechanik“ ist jedoch immer gleich: Wenn man die Realität dauerhaft verleugnet, man sich bis zum Anschlag aufregt und sich schier auflöst, wenn man mit seinem Schicksal hadert, wird man seinen Termin reichlich defokussiert erreichen oder sich einer entlastenden oder heilenden Therapie nicht zuwenden können.

An dieser Stelle möchte ich unbedingt betonen, dass es nicht darum geht, die Realität positiv zu bewerten. Die Bewertung darf schlecht sein. Radikale Akzeptanz bedeutet, sie – auch in ihrer „bescheidenen“ Bewertung – anzunehmen, statt sich effektlos dagegen aufzulehnen.

Schauen Sie den Tatsachen ins Auge! Sagen Sie Stopp zu dem Abwärtsstrudel!

Zugegeben ist dieser Schritt oft schwer. Wir möchten uns nicht mit dem, was ist abfinden. Alles in uns rebelliert dagegen. An dieser Stelle muss nun die Ratio über die Emotion siegen, indem der Verstand jetzt den Weg vorgibt:
Es geht um das Annehmen der Ist-Situation, es geht um eine Bestandsaufnahme. Sie fragen sich in diesem Moment, worum geht es eigentlich wirklich und was wäre für Sie am besten? Welches Bedürfnis steht hinter Ihrem Ärger, Ihrer Wut – wo genau sitzt der Stachel? Wie kommen Sie aus dieser konkreten Situation wieder auf einen grünen Zweig?


Hier kommen 7 Tipps wie radikale Akzeptanz leichter und eher gelingen kann*:

  1. Prüfen Sie Ihre Annahmen genau und legen Sie falsche Hoffnungen und Illusionen ab. Reden Sie sich die Situation nicht schön oder belügen Sie sich selbst. Das Festhalten an ungerechtfertigten Hoffnungen verzögert nur die Möglichkeit, Kraft zu schöpfen, um etwas ändern zu können.
  2. Denken Sie zurück an vergangene Situationen, die der aktuellen ähneln: Was haben Sie schon bewältigt? Wie ist Ihnen das gelungen? Was können Sie aus der Vergangenheit für die aktuelle Situation nutzen?
  3. Denken Sie an die Störche, die jedes Jahr zurückkehren oder an die Natur, die jedes Jahr eine Pause einlegt und dann im Frühling mit Kraft wiederkehrt. Entstehen und Vergehen sind ein Kreislauf. Abgeleitet davon kann man das eigene Leben auch als ein Auf und Ab verstehen. Die Großmutter eines früheren Weggefährten sagte einmal: „Der Weg zum Gipfel führt durchs Tal.“ Zuversicht ist dabei ein wichtiger Begleiter.
  4. Einüben von radikaler Akzeptanz: Sie können das Annehmen lernen und einüben. Erwarten Sie nicht, dass es ausreicht, sich das Üben vorzunehmen – ich möchte Sie ermutigen, es auszuprobieren. Üben Sie zunächst an kleineren Herausforderungen. So können Sie beispielsweise damit beginnen, sich morgens mental auf die schwierigen Situationen des Tages vorbereiten und diese so als gegeben akzeptieren und sich mit ihnen anfreunden.
  5. Lesen von klassischer (auch antiker) Literatur, um zu lernen, wie es andere in ferner Vorzeit geschafft haben, auf kleine und größere Probleme zu reagieren. Besonders empfehlenswert sind dabei die alten Stoiker, die gute Impulse geben, in welcher Haltung man mit der Realität umgehen kann.

 

EXKURS:
Sehenswert und schön zusammengefasst von Dr. Andreas Stock vom Treffpunkt Philosophie Villach: Möglichkeiten der Haltungen, dargelegt von zwei antiken Philosophen

Link zu Marc Aurel und seine 5 Prinzipien der Selbstbetrachtungen

  • Dankbarkeit
  • Bewusstsein der Sterblichkeit
  • Vertrauen, dass alles einen Sinn hat
  • Seelenruhe durch Praktizieren der Vernunft
  • Pflicht für das Allgemeinwohl

Link zu Epiktet und seine 5 Ideen der inneren Freiheit

  • Überlege, was in deiner Macht ist und was nicht in deiner Macht ist.
  • Nutze deine Vorstellungskraft, imaginiere eine Situation: Welche Hindernisse erwarten dich und wie wirst du darauf reagieren?
  • Sei dankbar für das, was du hast und prahle nicht mit fremden Vorzügen.
  • Wisse, dass alles seinen Preis hat.
  • Betrachte das Leben wie ein großes Schauspiel oder Theater.

EXKURS ENDE

 

  1. Suchen Sie nach Vorbildern in Ihrer Familie, im Freundes- oder Bekanntenkreis. Haben Ihre Vorfahren eine ähnliche Krise bewältigt? Wenn ja, wie haben diese das damals geschafft? Was waren deren Schlüsselkompetenzen oder Handlungsschritte, die die Situation entscheidend verbessert haben. Auch Biografien von bedeutenden Persönlichkeiten können hier hilfreich sein.
  2. Perspektivwechsel:
    • Nehmen Sie einen zeitlichen Perspektivwechsel vor und schauen Sie aus der Zukunft zurück auf die heutige Zeit: Vielleicht konnten Sie das negative Ereignis als Chance nutzen?
    • Oder schauen Sie aus der Perspektive einer anderen Person auf die Situation – was würde Ihre beste Freundin, Ihr bester Freund dazu sagen? Wie schaut die Situation von einem neutralen Beobachtungsposten aus?

 

Schaubild

 

Wie funktioniert radikale Akzeptanz

 

Dabei gilt immer: Akzeptieren wie etwas ist, ist die Ausgangslage für Veränderungen.

Wenn Sie sich gegen etwas wehren, vermehren Sie den Schmerz und entwickeln langfristig Leid. Leid entsteht durch Nicht-Akzeptanz des Schmerzes und das Festhalten am Mangel, dem Anhaften am Gescheiterten. Machen Sie sich klar, dass es sinnlos ist gegen etwas Unveränderliches zu rebellieren.

Vernünftige Gedanken können Menschen dann fassen, wenn sie Zugriff auf alle Ressourcen haben. Dies ist nicht im Wehren, sondern im Akzeptieren einer Situation der Fall. Wenn man von Emotionen bestimmt wird, kann man nicht rational denken oder handeln. Wenn Menschen durch Übung (s.o.) eine angemessene Selbstregulation gelingt, dann können sie über die Situation nachdenken und entscheiden, welche Schritte am aussichtsreichsten erscheinen.

Gedanken, die uns im Negativen festhalten sind häufig Empörung, das Gefühl ungerecht behandelt worden zu sein oder Enttäuschung. An dieser Stelle möchte ich betonen, dass es hierbei nicht um ‚im Recht sein‘ oder ‚Unrecht haben‘ geht. Selbst wenn Sie im Recht wären und viele mit Ihnen empfinden würden, Ihre Empörung teilten, selbst dann könnten Sie die Zeit nicht zurückdrehen und „verschüttete Milch, bleibt verschüttete Milch“.

Wenn es Ihnen gelingt, nach einer angemessenen Zeit der Klage und des Jammerns, aus dieser Spirale herauszukommen, können Sie Ihre Ressourcen, Ihr rationales Denken wieder zurückerobern. Sie sind ab diesem Zeitpunkt in der Lage, Veränderungen für eine Verbesserung Ihrer/der Situation herbeizuführen, Lösungen zu entwickeln und Schritt für Schritt umzusetzen.


Jetzt kommen noch zwei Praxisbeispiele und Übungen dazu:

  1. Sie haben einen Termin und stehen im Stau. Sie regen sich auf, der Puls geht hoch und Sie können vor lauter Aufregung kaum noch selbst sicher fahren. Sie sind genervt von anderen Verkehrsteilnehmer:innen. Sie rufen laut – vielleicht sogar Schimpfworte, weil alles zu langsam geht. Sie gefährden nun sich selbst und andere, denn ihre Wut hat sie fest im Griff. Sie ändern nichts, indem Sie ausflippen.
    Wie könnte in dieser Situation nun radikale Akzeptanz aussehen?

Akzeptieren Sie, dass es nun so lange dauert, wie es dauert. Infomieren Sie Ihren Termin, dass Sie sich verspäten werden. Bitten Sie um Entschuldigung. Das entlastet. Meistens sind die anderen Beteiligten nicht übermäßig sauer, sondern nur dann irritiert, wenn man zu spät käme ohne Bescheid zu sagen. Die Situation kennt nahezu jede:r und man darf davon ausgehen, dass man auf Verständnis trifft. Seien Sie selbst umsichtig und fahren Sie lieber devot als aggressiv. Sie kommen gleich schnell an, sind dabei aber gelassenen und können fokussiert in den Termin starten. Das nächste Mal kalkulieren Sie einen Stau mit ein und gehen lieber Vor-Ort noch einen Kaffee trinken, wenn Sie zu früh dran wären. (Damit haben wir das Learning auch schon abgehandelt.)

  1. Sie erhalten im neuen Job während der Probezeit die Kündigung. Sie finden, dass Sie zu wenig Zeit hatten sich unter Beweis zu stellen und finden das grob ungerecht. Andere haben weniger Erfahrung als Sie und die arbeiten schließlich auch dort. Sie sind maßlos enttäuscht und finden das auch keine gute Unternehmenskultur. Sie ärgern sich und sind in Wut und Angst was werden soll verhaftet. Sie bedauern sich selbst. Sie ändern Ihre Situation nicht, indem Sie nun in dieser Situation verharren.
    Wie könnte in dieser Situation nun radikale Akzeptanz aussehen?

Akzeptieren Sie die Entscheidung – mag sie aus Ihrer Sicht falsch sein. Die Entscheidung ist gefallen und die Gründe müssen nicht in Ihrer Person liegen, es können auch ganz andere wirtschaftliche oder politische Gründe sein. Schauen Sie nüchtern auf die Situation. Suchen Sie nach emotionaler Unterstützung und fragen Sie mal herum, wem das auch schon mal passiert ist. Sie werden sehen, das kommt immer wieder vor und Sie sind vermutlich in guter Gesellschaft. (Kleine Randbemerkung: Der Bewerbungsprozess kann nie eine vollständige Sicherheit in der Passung ergeben. Es bleibt letztlich eine Black Box auf beiden Seiten. Die Probezeit ist genau dafür da, diesen zunächst „blinden Fleck“ zu erhellen.) Ziehen Sie sobald möglich einen Strich unter diese Erfahrung und nehmen Sie das Gute mit, den Rest lassen Sie hinter sich. Sammeln Sie ihre Kräfte und gehen Sie den Bewerbungsprozess nun neu an: Überarbeiten Sie die Dokumente und nutzen Sie die gewonnenen Erkenntnisse für die Suche: Vielleicht können Sie beim nächsten Mal vorab hospitieren, um die Black Box zu verkleinern? Vielleicht können Sie beim nächsten Unternehmen die Zukunftsfähigkeit besser beurteilen, weil ein Bekannter darüber mehr weiß oder Sie sich in der Branche besser auskennen?

Welche Beispiele fallen Ihnen noch ein? Wo haben Sie schon mal zu lange im Schmerz festgehangen? Was genau hat Ihnen Energie „abgesaugt“? Machen Sie doch mal ein Gedankenexperiment. Vielleicht fallen Ihnen auch andere Lösungen für meine zwei konstruierten Beispiele ein? Lassen Sie die Gedanken schweifen und finden Sie neue Wege raus aus der schmerzhaften Erstarrtheit.

Vielleicht kennen Sie ja mein Motto? Ich zitiere sehr gerne Jean Anouilh: “Die Dinge sind nie so, wie sie sind. Sie sind immer das, was man aus ihnen macht.“

Ich wünsche Ihnen von Herzen die nötige Leichtigkeit und gutes Gelingen!

Herzlichst
Annette Hempel

PS: Und Übung macht den Meister…

WICHTIG: Die radikale Akzeptanz hat Grenzen: Diese liegen bei jeder Art von Missbrauch, bei Gewalt oder anderer Gefahr. Auch wenn Menschen psychisch instabil oder krank sind, ist das Konzept nicht angeraten. Wenn Seele und/oder Leib bedroht werden, dann sind Schutz und Sicherheit herstellen die ersten Mittel der Wahl! Holen Sie sich Hilfe, das ist nicht übertrieben und unbedingt angemessen.


BEITRAG ALS AUDIO ANHÖREN:

 


QUELLEN:
*Dr. Eva Wlodarek – Youtube Kanal Dr. Wlodarek Life Coaching und Website
Dr. Andreas Stock – Youtube Kanal Abenteuer Philosophie
Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH – Website Sinnsucher
Michaela Arlinghaus – komm, PR, Text und Coaching – Website
Sylvia Tornau – systemische Therapeutin – Website

Wie funktioniert radikale Akzeptanz

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